Tendzin Gyatsho oder besser bekannt als seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama formuliert die fünfte seiner 20 Empfehlungen im neuen Jahrtausend so: „Lerne die Regeln, damit du sie richtig brechen kannst.“ Dabei handelt es sich wohl um eine alte Weisheit, denn sämtliche wesentliche Errungenschaften unserer Menschheitsgeschichte sind mit dem Brechen bis dahin existierender und meist scheinbar unverrückbarer Regeln verbunden.

Ebenso wurden die Grundlagen unserer modernen Gesellschaft allesamt von Regelbrechern gelegt: da Vinci, Columbus – der übrigens nicht widerlegen wollte, dass die Erde eine Scheibe sei, Macchiavelli, Descartes, Marx, Einstein, Schumpeter. Diese Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen und bis hin zu Unternehmensführern verlängern, denn insbesondere erfolgreiche Unternehmen und Marken haben sich im Regelbrechen geübt. Darunter Ford mit seinem berühmten T-Model, Walt Disney mit seinem ausgeklügelten Geschäftsmodell, IBM mit seiner Monopolstellung auf dem Gebiet der standardisierten Lochkarten, Microsoft mit seiner geschickten IBM-Partnerschaft, Google als weltweiter Marktführer bei Internet-Suchen, Apple als ursprünglicher Hard- und Softwareproduzent, der den Smartphone- und Tabletmarkt und einige andere seit Jahren prägt oder auch Red Bull als Inbegriff für Energy Drinks und Markendominanz, um ein österreichisches Beispiel zu nennen. All diese Marken- und Unternehmensbeispiele waren nicht nur Regelbrecher, sondern in weiterer Folge vor allem Regelmacher.

Was bedeutet dieses Regelmachen nun aber für Unternehmen und ihre Marken in der Realität? Zunächst einmal zum Regelbrechen: dies kann vor allem temporäre Vorteile schaffen. Ein gutes Beispiel dafür ist die von Shawn Fanning, John Fanning und Sean Parker gegründete und 1999 online gegangene Musiktauschbörse Napster. Regelbrechend war dabei der Peer-to-Peer-Ansatz (P2P), der es den Teilnehmern ermöglichte, Musikdateien direkt zu kopieren.  Napster war eine der am schnellsten wachsenden Internetcommunities und erreichte bis 2001 ca. 80 Millionen Nutzer weltweit. Doch das Geschäftsmodell von Napster schaffte es trotz hoher Nutzerzahlen und tatsächlicher Nutzung – alleine im Jänner 2001 betrug das Tauschvolumen rund 2 Milliarden Dateien[1] – nicht, in eine die Marktregeln gestaltende Rolle zu kommen. Die Rechteverwerter der Musikindustrie verklagten Napster und verlangten dessen Abschaltung. Diese erfolgte im Februar 2001 – heute agiert Napster mit einem geänderten Geschäftsmodell und bietet Musik auf Basis eines Flatrate-Modells an. An diesem Beispiel zeigt sich der inhärente Zusammenhang zwischen langfristiger Markenstärke und einem schlüssigen Geschäftsmodell: um nachhaltigen Erfolg am Markt sicherzustellen, reicht es nicht aus, über das Brechen von Regeln temporäre Vorteile zu realisieren. Um ein nachhaltig erfolgreiches Geschäftsmodell zu etablieren, muss man in eine die Marktregeln gestaltende Rolle kommen. Erfolgreiche Marken schaffen genau das – in Ausprägungen unterschiedlicher Intensität.

Peter Thiel, Gründer des Online-Bezahlsystems PayPal, beschreibt in seinem Buch „Zero to One“ (2014) das größte Missverständnis unseres aktuellen Wirtschaftszyklus: demnach ist der Wettbewerb an sich für Unternehmen nicht erstrebenswert. Da in dieser Situation keine Gewinne realisiert werden, ist der Wettbewerb auch kein kapitalistisches Prinzip. PayPal als Dienstleister für den Transfer bietet den elementaren Vorteil, dass Zahlungen sofort dem Zahlungsempfänger gutgeschrieben und dadurch Lieferzeiten bei Onlineshopkäufen verkürzt werden – als eBay 2002 PayPal kaufte, nutzten bereits mehr als die Hälfte der eBay-Kunden das Service. Der Kaufpreis betrug damals 1,5 Milliarden US-Dollar.

Nachhaltig erfolgreiche Unternehmen bauen also Monopole oder monopolartige Positionen auf und positionieren ihre Marken parallel dazu ebenfalls mit einer gewissen exklusiven Differenzierung. Die Teilnahme an einem intensiven Wettbewerb hingegen ist eine Garantie für Profitabilitätsprobleme. Trotzdem basiert unsere Gesellschaft ihre Werte auf der Grundidee des Wettbewerbs. Dies beginnt schon in der Schule, setzt sich in der universitären Ausbildung fort und wird von den Unternehmen weiter gepflegt. So bringt unser Bildungs- und Wirtschaftssystem heute vielfach beinahe gleichgeschaltete, teils ideenlose Manager hervor, die in einer Kultur des Benchmarkings aufgewachsen sind und gelernt haben, dass es ausreicht, in standardisierten Tests nur ein wenig besser als der Durchschnitt abzuschneiden.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Optimierung der letzten 3% in hoch kompetitiven Märkten maximal das Überleben sichern kann, wird klar, dass es Zeit für einen gänzlich neuen Ansatz ist – und zwar sowohl in den Unternehmen selbst als auch bei den beratenden Dienstleistern, die mit ihnen zusammen arbeiten. Im Kern bedarf es unternehmerischer Veränderung und Gestaltung. In diesem Sinne erlebt auch die Consultingbranche eine substanzielle Veränderung: weg von der nihilistischen Unternehmensberatung hin zu einer Art partizipativem Unternehmertum. So wie Unternehmen lernen müssen, Regeln zu gestalten, dürfen Berater nicht mehr nur Beauftragte sein, sondern müssen zu Partnern werden. Den Kern jedes erfolgreichen Geschäftsmodells und jeder erfolgreichen Marke bildet also nicht der gekonnte Kampf im harten Wettbewerb, sondern die Ausnutzung einer Position des Gestalters – wer den Marktregeln folgen muss, wird sich stets auch den herrschenden Profitabilitätsniveaus unterwerfen müssen. Diese entwickeln sich bei steigendem Wettbewerb allerdings regelmäßig gegen Null. Der Regelmacher hat hier größere Gestaltungsfreiheit und kann so auch nachhaltige Prosperität für sein Unternehmen sichern. Es ist an der Zeit, sich von den altbekannten Modellen und Beratern zu trennen – im ersten Schritt sind dafür Unternehmens- und Markenstrategie als fix verbundene Einheiten zu verstehen. Im zweiten Schritt ist diese Erkenntnis organisational zu berücksichtigen und darüber hinaus beide Bereiche im Top-Management anzusiedeln. Spitzenreiter-Unternehmen und Nachzügler unterscheiden sich übrigens nachgewiesener Maßen[2] in der Fähigkeit, das bislang meist vorherrschende Silodenken zu überwinden. Mit den passenden Partnern, die weniger Berater und mehr Mitunternehmer sind, lassen sich dann auch jene Markenpositionen und Geschäftsmodelle finden, die das Regelmachen auch tatsächlich ermöglichen.

[1] Wikipedia: de.wikipedia.org/wiki/Napster

[2] Studie „Marketing 2020“, Millward Brown Vermeer