Die meisten Menschen wissen um die Existenz des Unterschieds zwischen Selbstbild und Fremdbild: Das Ich wird von einem selbst meist anders wahrgenommen als vom Umfeld – egal ob Familie, Freundeskreis, Arbeitskollegen oder vielleicht gar die Mitglieder des eigenen Vereins. René Descartes – Mathematiker, Philosoph und Begründer des frühneuzeitlichen Rationalismus ging im 17. Jahrhundert noch von der Fähigkeit des Menschen aus, sich selbst zu durchschauen und rückte das Ich ins Zentrum der Philosophie. Sein berühmter Satz „Cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) zeugt von diesem Optimismus. Psychologen und Neuroforscher sehen das heute bekanntermaßen nicht mehr ganz so: Die Selbsteinschätzung ist im Regelfall von der Realität stark abweichend. Dieser Umstand basiert weitestgehend auf unterschiedlichen, unerforschten neuronalen Mechanismen. Das Ergebnis ist uns allerdings weitläufig bekannt: Das Selbstbild passt mit dem Fremdbild nicht überein.

Was hat das nun mit dem Thema Marke zu tun? Erstaunlich viele Zusammenhänge offenbaren sich, wenn man Unternehmen berät und so die Möglichkeit erhält, sie in ihrer markenseitigen Selbsteinschätzung beobachten zu können. Höchst interessant ist dabei der beobachtbare Zusammenhang zwischen Unternehmenskultur und markenbezogenem Selbstbild. Im strategischen Markenmanagement werden diese beiden Blickwinkel in die Ist-Markenidentität (die Innensicht) einerseits und das Ist-Markenimage (die Außensicht) andererseits, aufgeteilt. Zur Unternehmenskultur: Diese beeinflusst die Innensicht der Markenidentität wesentlich. Die paranoide Unternehmenskultur, in der Misstrauen und Angst vorherrschen, hinterlässt hier ebenso ihre Spuren, wie etwa die dramatische, in der sich alles um einen charismatischen Führer dreht oder eine partyhafte Unternehmenskultur, die sich durch wenig Organisation aber gute Stimmung auszeichnet. Die perfekte Katastrophe entsteht, sobald auf Basis dieser verzerrten Innensicht Entscheidungen und Maßnahmen entwickelt werden. Nicht verwunderlich: Den so entwickelten neuen Produkten, Angeboten oder Kommunikationskampagnen fehlen wesentliche Erfolgsfaktoren – sie sind weder bedürfnisgerecht noch marktkonform. Das schlechte Ergebnis zeigt sich postwendend und das Unternehmen findet – je nach Kulturtyp – dann rasch einen passenden Schuldigen. Oder eben nicht (etwa, weil es ohnedies mehr um den Spaß geht).

Mit einer adäquaten Markenführung hat das alles selbstverständlich nichts zu tun. Die klare Empfehlung an alle Unternehmen – und zwar unabhängig von ihrer Größe – ist deshalb der unvermeidbare Blick ins Auge der Tatsachen. Folgende drei Eckpunkte schaffen dabei schon mal eine Grundlage, auf der man im Weiteren aufsetzen kann: (1) Feststellen, ob und durch welche Eigenschaften die eigene Marke am Markt in entsprechender Schärfe skizziert wird, (2) welcher Eigenschaften sich die Konkurrenten bedienen und (3) welche der existierenden Eigenschaften den potenziellen Kunden überhaupt wichtig sind.

Bedingung: Die „Sich-in-den-eigenen-Sack-lügen“-Haltung muss abgelegt werden! Ist dieser Sprung erst einmal geschafft, beginnt so etwas wie ein natürlicher Reinigungsprozess. Die Organisation beginnt Marke als das zu verstehen, was sie ist – als die Summe der Wahrnehmungen in den Köpfen der Zielgruppe. Sie folgert aus der bestehenden Position zur Konkurrenz und der eigenen Fähigkeit, Nutzenpotenziale abzudecken, den Wertbeitrag der Marke zum Erfolg. Darüber hinaus kann ab diesem Zeitpunkt ein sinnvoller, weil zielgerichteter Maßnahmenplan, zur Stärkung der Marke insgesamt abgeleitet und umgesetzt werden. Und genau dort beginnt erfolgreiche Markenführung – wo der klare, kritische Blick beginnt und die Lüge aufhört.